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Kantonsratssession, Dienstag, 11. Mai 2021, Tissot Velodrome

 

Eröffnungsrede als Alterspräsident

 

Geschätzte Frau Landamann
Geschätzte Regierung
Liebe Kolleginnen, Liebe Kollegen
Geschätzte Medienvertreter
Liebe Gäste

Ich heisse alle Anwesenden hier im Tissot Velodrome in Grenchen herzlich willkommen. Ein besonderer Gruss gilt den neu gewählten 25 Kantonsrätinnen und Kantonsräten. Auch begrüsse ich die neu gewählte Regierungsrätin Sandra Kolly und Regierungsrat Peter Hodel, die beide die Session von zu Hause per Video verfolgen.

«Grenchen hat keine Geschichte. Keine Altstadt. Denn Grenchen ist keine alte Stadt, sondern war lange ein Bauerndorf und dieses Bauerndorf hat der Uhrenstadt Platz gemacht. Grenchen schoss aus dem Boden. Schnell und erfolgreich. Auf Marktlage und Exportmöglichkeit mit der Uhrenindustrie verbunden. Jede Schwankung auf dem Uhrenmarkt liess Grenchen wanken. Und als der Boom stoppte, stoppte auch Grenchen - das Stadt-Uhrwerk blieb stehen.»

So der Beginn eines Textes aus dem Jahr 2001. Ramón Bill, mein Sohn, hat ihn als Historiker und Journalist anlässlich des 150-Jahre Jubiläums der Grenchner Uhrenindustrie zur Ausstellung «Drive in Grenchen» publiziert.

Ich zitiere weiter.

«Grenchen fehlt das Gesicht, die Boomzeit reichte nicht aus für ein fertiges Stadtbild. 1905 sollte der Marktplatz ein Zukunftszentrum werden - das blieb Utopie. Zwar wurde der Platz vor wenigen Jahren doch noch fertig gestaltet, aber er unterstreicht nur die Schäbigkeit, die Grenchen ausstrahlt, den Eindruck: Die besten Jahre sind vorbei.
Grenchen hat also keine sichtbare Geschichte und somit kein Geschichtsbewusstsein. Mit karger Architektur platzte das Postzentrum ins Stadtbild und begrub eine Häuserzeile, welche die Geschichte der Uhrenstadt repräsentiert hatte. Vis-à-vis der ETA dominieren EPA und Coop das Zentrum. Auch sie begruben einen Teil des jungen Stadtbildes. Coop baut momentan einen neuen Konsumturm - er kommt auf der ehemaligen Jugendstilvilla Girard zu stehen.
Grenchen hat nicht ein Zentrum, sondern viele Einkaufs-Zentren. Die Migros repräsentiert am deutlichsten, was auch die anderen Zentren auszeichnet: optimale Erreichbarkeit dank vielen Parkplätzen. Aus den umliegenden Gemeinden kommt niemand nach Grenchen, um zu flanieren oder zu verweilen, sondern um einzukaufen oder um zu arbeiten. Da ist die Erschliessung mit Parkplätzen zentral: zweckorientiert und effizient. Unterstützt wird dies neuerdings durch die Coop-Tankstelle: Sieben Tage die Woche im Vorbeifahren einkaufen. Zuvor platzte bereits Mac Donald’s mit seinem Drive-In-Normhäuschen ins Stadtbild. Im Gegensatz zu anderen Konsumzentren braucht man hier überhaupt nicht mehr auszusteigen. Drive In: fahr rein, konsumiere und fahr wieder weg. Eigentlich läuft ganz Grenchen Gefahr zu einem Drive In zu mutieren. Die Zweckmässigkeit der Stadt lässt einen nicht verweilen, sondern gezielt seine Sache erledigen. Nach Ladenschluss ist zu. Wer später nach Grenchen kommt, wähnt sich an einem hohen Feiertag.
Viele würden unterschreiben: Grenchen ist langweilig und hässlich. Oder welche Postkarte von Grenchen würden Sie verschicken? Wohl eine mit viel Grün und wenig Stadt: Wenn Grenchner Grenchen loben, reden Sie nur von der schönen Lage und von der Umgebung - selbst Grenchner glauben: Grenchen sei hässlich.

Sie irren. Grenchen hat Charme, den Charme einer Industriestadt, den Charme des Echten: Hier wurde und wird gearbeitet. Es gibt keine Prunkbauten und keine adeligen Herrschaftssitze - Grenchen ist eine Proletarierstadt. Die Arbeit bestimmt das Stadtbild. Fabriken statt Kirchen. Keine gotische Kathedrale steht im Herzen der Stadt, dafür thront die ETA-Fabrik am Marktplatz. Und gerade deshalb steht Grenchen seit genau 20 Jahren im ISOS, im Inventar für schützenswerte Ortsbilder der Schweiz. Und Grenchen ist nicht einfach irgendwo aufgeführt, sondern wird im ISOS als Ortsbild von nationaler Bedeutung eingestuft. Ja, Grenchen ist sogar im INSA, im Inventar der neueren Schweizer Architektur vertreten; ein doch eher exklusiver Kreis von Schweizer Ortschaften und somit unbestreitbar von architektonischem Wert.
Ein Widerspruch? Nein. Den Grenchen ist anders. Grenchen ist ein einzigartiges Beispiel für den Boom der Industrialisierung. Das wohl einzige Schweizer Beispiel, wie aus einem kleinen Bauerndorf innert rund 70 Jahren eine blühende Stadt, eine Uhrenmetropole wuchs. In Grenchen stehen keine imposanten Türme aus riesigen Steinquadern, keine verschnörkelten barocken Brunnen und keine mittelalterlichen Befestigungsanlagen. Grenchen ist ein Denkmal der jüngeren Schweizer Vergangenheit. Ein Denkmal der Industrialisierung. Einer Zeit, welche die Schweiz umgekrempelt hat zu der Schweiz, in welcher wir heute leben.
Und daher ist Grenchen sehr wohl schützenswert, genauso schützenswert, wie eine der zahllosen niedlichen Altstädte. Grenchner dürfen also durchaus stolz auf Grenchen sein, auch wenn sich Grenchens städtebaulicher Charme nicht auf eine platte Postkarte bannen lässt.»

Ende Zitat.


Seither sind 20 Jahre vergangen. Grenchen, die Industriestadt im Grünen, hat sich als zweitgrösste Stadt des Kantons weiterentwickelt.

Im Jahr 2008 ging der begehrte Wakkerpreis des Schweizerischen Heimatschutzes an die Stadt Grenchen. Anders als früher, wo in erster Linie die Erhaltung historischer Zentren ausgezeichnet wurden, hat sich der Fokus verschoben. Ausgezeichnet werden heute Gemeinden, die ihren Siedlungsraum unter zeitgenössischen Gesichtspunkten sorgsam weiterentwickeln.

Grenchen wurde für den respektvollen Umgang mit den zahlreichen Bauten der Nachkriegszeit gewürdigt. Erwähnt wurden dabei das von Ernst Gisel entworfene Parktheater oder das Schwimmbad Grenchen, beides typische Bauten aus den 50-er- und 60-er Jahren - zudem die sorgsame Weiterentwicklung der Stadt und die vielfältige Aufwertung des öffentlichen Raumes. So auch des Marktplatzes!

Grenchen ist noch nicht fertig gebaut. Die laufende Ortsplanrevision gibt den Rahmen für die zukünftige Stadtentwicklung vor. Der Fokus liegt der Zeit entsprechend auf einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung mit einer Verdichtung nach innen.

  • Wenn in Grenchen gebaut wird, dann kann es schon mal vorkommen, dass 15 schwarzgewandete Gesellen mit Schlaghosen 150 Tonnen Holz und 1.5 Tonnen Nägel zu einer Radrennbahn verbauen. Das Tissot Velodrome!
  • Die Holzrennbahn wurde innert 3 Wochen durch 15 Zimmermänner gebaut, die auch schon die Rennbahn in London und später in Peking für die olympischen Spiele gebaut haben.
  • Es ist schweizweit das einzige Velodrome mit einer 250 Meter langen Holzrennbahn. Die Bahnbreite ist 7 Meter und die Steilheit der Kurven beträgt 46 Grad.
  • Für den schnellen Fahrbelag wurde wegen der geringen Verformung unbehandelte, sibirische Fichte verwendet.
  • Das animiert nationale und internationale Radrennfahrer*innen Rekorde zu brechen. Dennis Rohan (Neuseeland) schaffte hier seinen Stundenweltrekord mit 52.491 Kilometern. Das wären 210 Bahnrunden in einer Stunde!
  • Nicht verzagen, es gibt auch Schnupperkurse für alle Radbegeisterten!

Dass die Stadt Grenchen auf der internationalen Landkarte des Sportes und im Speziellen des Radsportes ein wichtiger Hot Spot geworden ist, ist ein grosser Verdienst von Andy Rihs. Andy Rihs, gestorben 2018, war ein erfolgreicher Unternehmer und Macher. Als erster Sponsor garantierte Andy Rihs als Stiftungsratspräsident mit zwei Millionen Schweizer Franken die Startfinanzierung. Damit war der Grundstein für den Bau gelegt. Die gesamten Investitionskosten betrugen 20 Millionen Franken. Mit der Realisierung der 250 Meter langen Rundbahn wurde ein neues Zeitalter im Schweizer Radrennsport eingeläutet.

Die Stiftung Velodrome Suisse wurde im 2011 und die Betriebsgesellschaft im 2012 gegründet. Der Baubeginn erfolgte im April 2012 und nach nur rund einem Jahr wurde im Juni 2013 eröffnet. Auch dank der Unterstützung durch Politik und Verwaltung der Stadt Grenchen konnten diese sportlichen Ziele erreicht werden.

Das Tissot Velodrome ist nun seit acht Jahren erfolgreich unterwegs. Es erzeugt viele Wertschöpfungsprozesse (Gewerbe, Gastronomie, Hotellerie, Food) und beherbergt auch ein Hotel mit 34 Betten und einem Restaurant. Es ist Arbeitgeber für rund 50 Personen und leistet damit einen wichtigen Beitrag zum Standortmarketing für Grenchen, die Region und die Schweiz. Der Jahresumsatz der Betriebsgesellschaft beträgt rund 2 Millionen Franken.

Mit den Veranstaltungen - allen voran die Bahn-Europameisterschaften 2015 - wurde die Stadt Grenchen weit über die Landesgrenze hinaus bekannt.
Das Tissot Velodrome ist auch Ausbildungsstätte und Trainingscamp für nationale und internationale Radsport-Teams.

Mit über 100'000 Besuchern pro Jahr ist es zudem die ideale Lokalität für:

  • den kantonalen Berufsschulsport mit um die 200 Schüler*innen pro Tag
  • den Hallensport wie Trampolin, Handball oder Fussball
  • Messen, Sportveranstaltungen, Betriebsanlässe oder Generalversammlungen wie die Swatch GV (mit 3'000 Besucher*innen), Landi Schweiz, Schweizer Armee
  • oder die heutige Session des Kantonsrates

Ich komme zum Schluss:
Das Tissot Velodrome ist von einer innovativen Unternehmerpersönlichkeit lanciert worden.
Möge der Pioniergeist dieser Stätte uns für unsere Arbeit im Kantonsrat inspirieren.
Als Alterspräsident ermutige ich euch die anstehenden Geschäfte im Kantonsrat sachlich und verantwortungsvoll - im Interesse und zum Wohle der Solothurner Bevölkerung zu behandeln und zu entscheiden.
Bauen wir auf eine gute, konstruktive Zusammenarbeit aller!

Nun wünsche ich uns einen gelungenen Start in die neue Legislatur.

 
Remo Bill, Kantonsrat SP, Grenchen